Am Pfingstfest habe ich die Predigt bei den Franziskanerinnen von Maria Stern und im Augsburger Dom einer alten Gebetsbitte aus den Psalmen gewidmet: Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der Erde wird neu. Der Geist Gottes erfüllt nicht nur die Kirche, er beseelt die Welt. Die Welt ist nicht geistlos, und der Geist nicht weltlos. Daraus resultiert auch unsere Mission als getaufte und gefirmte Christen.
„Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der Erde wird neu.“
Predigt zu Pfingsten 2014 von Domdekan Prälat Dr. Bertram Meier
Der Liedruf klingt uns noch im Ohr, und wir sollten ihn uns über das Ohr hinaus zu Herzen gehen lassen. Er fasst die Bitte um den Heiligen Geist zusammen, die vielen von Jugend an vertraut ist: „Sende aus deinen Geist, und alles wird neu geschaffen, und du wirst das Angesicht der Erde erneuern“ (vgl. Ps 104, 30).
Dieses Gebet ist über 2500 Jahre alt, und doch ist es überraschend aktuell: „Das Angesicht der Erde erneuern.“ Haben wir uns schon einmal überlegt, was das eigentlich heißt? Die Erde hat ein Gesicht. Dass der Mensch ein Gesicht hat, das wissen wir. Es gibt sogar einen Wettbewerb, der auf der Suche ist nach dem schönsten Gesicht. Unser Gesicht zeichnet uns wesentlich aus, und wenn uns unser Gesicht wenig attraktiv erscheint, dann helfen wir nach mit kosmetischen Tricks, neuerdings sogar mit sog. Schönheits-OP’s. Doch die eigentliche Frage ist eine andere: Über Schönheit und Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, wichtiger ist der Ausdruck, den unser Gesicht vermittelt. Wir können und müssen uns ins Gesicht schauen. Und diese Augenblicke sind oft sprechender als manch lange wortgewaltige Rede.
Der Mensch hat ein Gesicht. Aber wie ist es mit der Erde, mit den vielen Geschöpfen: Kann man da vom Gesicht sprechen? Es ist seltsam: Ein kleines Kind redet alle Dinge mit „Du“ an, ganz spontan, intuitiv. Wir lachen darüber und denken: Das ist naiv, unaufgeklärt, typisch Kind. Und wir reden es dem Kind bald aus. Schade, denn es steckt Wahrheit in dieser Anrede des Kindes. Die Dinge, die Geschöpfe haben tatsächlich ein Gesicht. Gerade der hl. Franziskus hat der ganzen Schöpfung Gesichter gegeben. Im Sonnengesang hat er den Geschöpfen nicht nur neutrale Namen zugewiesen, sondern sie in die Schar seiner Verwandten aufgenommen und mit „Du“ angeredet. Das ist ein Akt großer Ehrfurcht vor allem, was aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen ist.
Die Geschöpfe sind nicht einfach eine Sache, Materie, Material, wie wir es aus der Fußballbranche kennen, wenn ein erfolgloser Trainer über seine Mannschaft klagt: „Ich habe das falsche Spielermaterial.“ Selbst im Wort „Materie“ klingt noch die Nähe an zu „mater“, zur „Mutter“ Erde. Mutter Erde hat ein Gesicht, und sie schaut uns an, manchmal üppig blühend, dann wieder kümmerlich dahinwelkend. Die Erde ist endlicher Ausdruck des unendlichen Gottes; ihr hat der Schöpfer seine Fußspuren eingeprägt. Gottes Geist wohnt in der Welt wie die Seele im Leib. Die Welt ist nicht geistlos, und Gottes Geist ist nicht weltlos oder gar weltflüchtig. „Der Geist des Herrn erfüllt das All.“ Er erfüllt die Welt.
Damit wird das All nicht vergöttlicht. Die Welt, die Erde sind nicht Gott, wie der Pantheismus uns einredet oder es manche Strömungen des Neu-Age nahe legen. Das All ist nicht Gott, sondern Welt, aber Gottes Geist inspiriert das All. Davon lebt es. Die Geschöpfe verdanken sich Gottes Geist. Umgekehrt gilt aber auch: „Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört. Nimmst du ihnen den Atem (den Geist), so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde“ (Ps 104, 29).
Der Geist Gottes ist nicht nur dem Menschen vorbehalten und hier für den gelehrten Kopf oder die gefühlte Innerlichkeit reserviert. Wie der Geist den Leib belebt, so vitalisiert er auch die Mitgeschöpfe. Sie sind nicht irgendein Ding, von Gott und allen guten Geistern verlassen, sondern von Gottes Geist beseelt. Der Geist Gottes gibt der Erde und den Kreaturen ihr Gesicht.
Zu einem Rabbi kommt ein Schüler und fragt ihn, was Glauben sei. Der Rabbi führt ihn zum Fenster und fragt: „Was siehst du?“- Der Schüler antwortet: „Menschen, Häuser, Bäume, …“ – Dann führt der Rabbi ihn zu einem Spiegel und fragt ihn: „Was siehst du jetzt?“ Der Schüler antwortet: „Jetzt sehe ich mich selbst.“ – „Siehst du“, sagt der Rabbi, „wenn du dein Leben lässt, wie es ist, so schaust du hindurch wie durch ein Fenster auf die ganze Welt, bis zu ihrem Schöpfer. Ist dir aber das Glas nicht genug und legst du nur ein bisschen Silber auf, so siehst du nur noch dich selbst.“
Glauben heißt also: das Gesicht der Erde wahrnehmen und durchschauen bis zum Schöpfer, der in den Geschöpfen aufleuchtet und offenbar wird. Um diesen Durchblick geht es: nicht bei der Oberfläche stehen bleiben, sondern auf die wahren Konturen, das eigentliche Gesicht des Schöpfers schauen. Gott hat sein Geheimnis „in die Bäume geschrieben, nicht allein in die Bücher“, sagt Martin Luther. Gibt das nicht zu denken? In dem Augenblick, da wir meinen, unsere Bäume würden in den Himmel wachsen, beginnen sie zu sterben. Sie sterben, weil wir ihr Geheimnis nicht mehr wahrnehmen. So gesehen, ist das viel beklagte Waldsterben ein Sinnbild für das Sterben der Menschlichkeit. Oder gehen wir nach Dubai, wo gerade das höchste Haus der Welt gebaut wird: ein Hotel mit einer Höhe von 600 Metern. Erinnert das nicht an Babel? Wo der Mensch am Himmel kratzt, fällt er bald aus allen Wolken. Wo man meint, nach Lust und Laune den Himmel auf Erden genießen zu können, dort kennt die Phantasie der Menschen bald keine Grenzen mehr. Sie leben sich aus, und sind schnell zerlebt. Bei ihrer Schlemmerei in vielerlei Hinsicht versinken die Lustmolche im Sumpf von Sünde und Schuld.
Greifen wir die Geschichte vom Rabbi auf: Legt man nur ein bisschen Silber unter das durchsichtige Glas, dann blickt man nicht mehr durch und sieht nur noch sich selbst. Der in sich selbst verliebte Narziss lässt grüßen: Wer ist der / die Schönste im ganzen Land? Der Mensch denkt, er habe den Geist für sich gepachtet: „Hauptsache, mir geht’s gut“. Dass auch die Mitgeschöpfe Geist und Leben haben, nimmt er nicht mehr wahr. Er plündert sie aus nach Strich und Faden; er missbraucht sie zu eigenen Zwecken; er vergreift sich an ihnen, indem er sie zum Material seiner Manipulationskünste macht und zur Ware seiner Konsumgelüste.
Trotzdem gibt es auch Hoffnungszeichen: Gerade junge Leute haben ein Gespür dafür, dass es so nicht weitergehen kann. Sie werden feinfühlig für innere Werte wie Freundschaft und Familie. Auch Keuschheit und Treue liegen wieder mehr im Trend. Wichtig ist nur, dass wir die Jugend in ihrer Suche nicht allein lassen. Es wäre schade, wenn es alternatives Leben nur bei denen gäbe, die auf der grünen Öko-Welle schwimmen. Pfingsten ist ein buntes farbenfrohes Fest. Beim Heiligen Geist geht es nicht nur um die Kontrolle, ob bei uns die Luft rein ist im Sinn von Schwefeldioxyd und Bleigehalt. Die Botschaft des Heiligen Geistes greift tiefer: Die Umweltkrise ist auch eine Krise des Menschen: Er blickt nicht mehr durch bis zum Gesicht der Erde, durch das der Schöpfer uns anschaut. Attacken gegen den praktischen Materialismus und den Konsumismus allein reichen nicht aus. Wir brauchen eine neue Sicht, einen neuen Durchblick auf den, der die Welt im Innersten zusammenhält. An uns Christen liegt es mit, ob wir das verlorene Paradies wiedergewinnen, oder ob die Erde immer mehr eine Müllhalde wird von weggeworfenem, verbrauchtem und unerfülltem Leben.
Papst Johannes Paul II. hat an Pfingsten 1979 (2. Juni) zum ersten Mal seine polnische Heimat besucht. Diese Reise bleibt unvergessen, und wenn es ein prägendes Zitat gibt für den Weg, den die Freiheit sich danach bahnte, dann sind es die Predigt-Worte, die der Papst damals einer begeisterten Menschenmasse zurief: „Ich, ein Sohn polnischer Erde und zugleich Papst Johannes Paul II., ich rufe aus der ganzen Tiefe dieses Jahrtausends, rufe am Vorabend des Pfingstfestes zusammen mit euch allen: Herr, dein Geist steige herab! Dein Geist steige herab! Und erneuere das Antlitz der Erde! Dieser Erde! Amen.“
Land und Erde sind in der polnischen Sprache ein und dasselbe Wort. Erneuere das Antlitz dieses Landes! Welche Sprengkraft hatten diese Worte! Sie haben in Polen aus dem Schneeball einer kurzen Gebetsbitte eine Lawine der Freiheit in Gang gesetzt, die das Eis einer in Ost und Welt geteilten Weltordnung brechen sollte. Auch unsere Gesellschaft heute, in der so viel von Krisen die Rede ist, braucht ein neues Gesicht. Die Kirche braucht wieder mehr Gesicht. Ein Kloster braucht Gesicht, damit die Menschen sehen, was das Profil einer Gemeinschaft ist. So machen wir uns die Bitte zu Eigen: „Sende aus deinen Geist, und das Antlitz dieses Landes, das Antlitz der Kirche, das Antlitz dieses Klosters wird neu.“